Eine Frage der Perspektive

Mit einem reduzierten, fast monochromen Interieur schafft der Lamy Concept-Store in New York nicht nur den Rahmen für die Designwelt von Lamy. Er dient auch als eine Art White Cube für kreative Prozesse, die an diesem Ort stattfinden und ermöglicht werden sollen.

„Lamy hat schon über 180 Concept Stores rund um die Welt eröffnet. Und doch stellt dieser in New York einen ganz besonderen Meilenstein für uns dar“, erklärte Isabel Bohny, Head of International Marketing, bei der Eröffnung. „Er ist der vielversprechende Startschuss für unser langfristiges Ziel, flächendeckende Präsenz von Lamy in den USA zu erreichen.“

Der Store solle nicht nur der Repräsentation und dem Erleben der Marke dienen, sondern auch einen Ort der Inspiration, der Kreativität und der Kollaboration schaffen. „Mit seiner vielfältigen und lebendigen Kunstszene erscheint uns SoHo als idealer Ausgangspunkt dieser Idee. Der Zeitgeist ist hier auf besondere Weise spürbar – perfekt, um als Marke neue Impulse zu erhalten und auch zu setzen.“

Rund 100 internationale Gäste waren bei der Eröffnung des New Yorker Concept Stores vor Ort.

Im November 2018 stellte Lamy ein erstes Projekt vor, das diese Idee verwirklicht: ein Mural von Christoph Niemann, das der Künstler für die seitliche Außenfassade des Stores entwickelt hat. Der Entwurf dazu wurde im Rahmen des Store-Eröffnungsevents erstmalig einem exklusiven Kreis von gut hundert internationalen Gästen präsentiert, darunter Kunden und Partner sowie zahlreiche Persönlichkeiten aus Presse, Kunst und Design.

 

Im „Artist Talk“ mit Mike Meiré (Art und Brand Director für Lamy) und Nicholas Blechman (Kreativdirektor von „The New Yorker“) sprach Christoph Niemann über die Zusammenarbeit mit Lamy und sein Fassaden-Kunstwerk für den Store: „Man sollte niemals den Fehler machen, sein Publikum zu unterschätzen“, so Niemann. Dieses sei heute aufgeklärter, kritischer, aber auch fordernder denn je. Durch den Einfluss der sozialen Medien sei das Publikum heute nicht mehr nur Betrachter, sondern vielmehr als Partner in einem Dialog zu sehen. „Die Kunst ist es, immer wieder auszutesten, wie weit man gehen kann.“

Frontal betrachtet, zeigt das Mural in der rechten Bildecke einen Zeichner. Klein, auf Zehenspitzen stehend, den Arm in die Höhe gereckt, scheint er gerade den letzten Strich an sein monumentales Werk zu setzen. Monumental, da das gezeichnete Motiv ungleich größer erscheint als er selbst: Es zeigt seinerseits einen Zeichner, der, über eine Tischkante gebeugt, seinen Stift führt und auf seltsame Weise verzerrt erscheint.

Betrachtet man die Fassadenillustration von der gegenüberliegenden Straßenseite, verschwindet die Verzerrung, der sitzende Zeichner scheint zu schrumpfen. Zugleich schnurrt auch der kleine Mann auf den Zehenspitzen in sich zusammen, bis von ihm nur noch eine schmale Linie zu sehen ist: die Linie des Zeichners.

 

Die optische Täuschung des Fassadenbilds, die auf perspektivischer Verzerrung beruht, nennt sich Anamorphose – abgeleitet von dem griechischen Wort „anamorphosis“, die Umformung. Der Bildinhalt dagegen lässt sich am ehesten als Paradoxon bezeichnen: Ähnlich M.C. Eschers berühmter Lithografie „Drawing Hands“, die zwei einander zeichnende Hände zeigt, stellt auch Christoph Niemanns Mural die sprichwörtliche Frage nach der Henne und dem Ei: Wer zeichnet wen?