Mehr, als wir sehen
Um hinter das Wesen der Dinge zu blicken, erfordert es mehr als perfekte Sehkraft: unter anderem einen Raum, der es erlaubt, sie aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Ein solcher Ort ist das Museum 21_21 Design Sight, in dem kürzlich die Ausstellung „thinking tools“ zu sehen war.
Das 21_21 Design Sight in Tokio will das Auge für jene Dinge schärfen, die uns täglich begleiten, deren Gestaltung und Wirkung wir uns aber nur allzu selten bewusst sind. Der Name des Museums verweist auf seine Programmatik: Anspielend auf den Begriff
„20/20-Sicht“, der die ideale Sehschärfe bezeichnet, will das 21_21 Design Sight Perspektiven über das Sichtbare hinaus eröffnen und so ein tieferes Verständnis für Gestalt und Gestaltung unserer dinglichen Welt ermöglichen.
Die ersten LAMY safaris: „thinking tools“ zeigt zahlreiche Originale aus dem Lamy-Archiv.
Die „Korallen“-Skulptur nach einem Entwurf von Christoph Niemann
Auch „thinking tools“ will Alltägliches neu erfahrbar machen. Anhand von zahlreichen Original-Prototypen, Skizzen und Modellen gibt die von Lamy initiierte Wanderausstellung Einblicke in den Designprozess von Schreibgeräten – vom ersten Entwurf bis zur Serienproduktion. Sie gibt Aufschluss über die ausgesprochene Komplexität dieses Prozesses, der zahlreiche Beteiligte involviert und neben gestalterischen und funktionalen Aspekten auch marketingstrategischen Gesichtspunkten Rechnung tragen muss.
Die Ausstellung beleuchtet dabei die höchst individuellen Strategien und Methoden der
von Lamy engagierten Gestalter, darunter internationale Größen wie Jasper Morrison, Franco Clivio oder Mario Bellini. Während Gerd A. Müller, Designer des heute über 50 Jahre alten Designklassikers LAMY 2000, noch mit selbst angefertigten Holzmodellen arbeitete, leisten heute oftmals moderne 3D-Drucker wichtige Dienste bei der Entwicklung von Schreibgeräten. Vor allem aber zeigen die Exponate, dass Produktentwicklung bei Lamy stets auch ein Ringen ist: zwischen Designanspruch und Machbarkeit; um die perfekte Synthese aus Form und Funktion.
Die Ausstellung zeigt künstlerische Arbeiten, die Christoph Niemann eigens für Lamy entwickelt hat.
Wie der doppeldeutige Titel verrät, veranschaulicht die Ausstellung „thinking tools“ jedoch nicht nur den Entstehungsprozess von Schreibgeräten. Sie richtet den Blick auch auf deren Rolle als Medium: als Ausdrucksmittel, das uns mit unseren Ideen, Gedanken und Emotionen
verbindet. Indem wir schreiben, ordnen wir unser Denken, lenken unsere Kreativität in – mal mehr, mal weniger – geordnete Bahnen. Das weiß der Architekt, der seine Entwürfe zuerst auf Papier skizziert, ebenso wie der Schriftsteller, der für spontane Einfälle stets sein Notizbuch mit sich trägt.
Reflexionen über das Medium Schreibgerät: Illustrationen und Installationen von Christoph Niemann
Und das weiß Christoph Niemann, der im Umgang mit Schreibgerät und Papier zweifellos eine ganz besondere Virtuosität an den Tag legt. Der international gefragte Illustrator ist unter anderem für seine pointierten Zeichnungen und Grafiken bekannt, die regelmäßig in Magazinen wie „The New Yorker“, „The New York Times“, „Wired“ oder dem „ZEIT Magazin“ zu sehen sind.
Für die Ausstellung entwickelte er eine Reihe von Illustrationen sowie dreidimensionale Rauminstallationen, die den Titel „thinking tools“ auf ebenso originelle wie überraschende Weise interpretieren.
Die Idee des Schreibgeräts als Denkwerkzeug und „Ideentransporter“ wird hier auf anschauliche Weise verdichtet – etwa in Form einer Installation, die einen Füllhalter mit einem Trichter verschmelzen lässt.
Zahllose aus der Decke hervorgehende Fäden werden in diesem Trichter gebündelt: wie Gedanken, die sich schließlich in einer Idee konkretisieren.
„Schreibgeräte im Museum: Das mag manchen überraschen“, sagt Naoto Fukasawa. Der Designer des 2008 lancierten LAMY noto ist Mitbegründer und einer von drei Direktoren des 21_21 Design Sight. „Wenn wir in eine Ausstellung gehen, erwarten wir, etwas vorzufinden, das außerhalb unseres alltäglichen Horizonts liegt. Schreibgeräte aber sind uns nah und vertraut; die meisten von uns halten täglich eines in der Hand.
Doch obwohl sie uns so nahe sind – oder vielleicht gerade deshalb – lohnt es sich, diese scheinbar alltäglichen Objekte aus einer neuen Perspektive zu betrachten.“